DAS NORDBAHNVIERTEL

Am Gelände des ehemaligen Wiener Nordbahnhofs in der Leopoldstadt entsteht seit einigen Jahren ein neuer Stadtteil. Auf dem 85 ha großen Areal werden bis zum Jahr 2026 rund 20.000 Bewohner*innen leben. Es ist damit eines der größten innerstädtischen Entwicklungsgebiete Wiens. 

Kohlenrutschen - Übersicht gegen Kahlen- und Leopoldsberg.

Die Gegend war ursprünglich Teil der unregulierten Donaulandschaft. Im 19. Jahrhundert entstand die erste Dampfeisenbahnstrecke Österreichs und mit ihr der Nordbahnhof. Das Bahngelände diente vor allem dem Transport von Kohle aus Böhmen, Mähren und Schlesien. An den Kohlenrutschen wurde der wichtige Brennstoff unter schwierigsten Bedingungen aus den Bahnwaggons entladen und von hier aus in die Stadt verteilt.

Im NS-Regime wurden ab 1941 Wiener Jüdinnen und Juden im 2. Bezirk – dem Bezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil – in Sammellagern interniert. Von hier aus wurde der Großteil der 66.000 österreichischen Shoah-Opfer weiter in Ghettos und Vernichtungslager deportiert. Mindestens 3.244 Jüdinnen und Juden wurden vom Nordbahnhof deportiert. Gedenktafeln an Häusern und auf Gehsteigen in der Leopoldstadt – allerdings noch nicht im Nordbahnviertel – erinnern an ihre Demütigung, Verfolgung und Vernichtung.

Der während des Krieges beschädigte Nordbahnhof wurde 1965 gesprengt. Das Areal wurde nur noch als Frachtenbahnhof weiter betrieben und verlor zunehmend an Bedeutung. Teile der Infrastruktur verfielen und die Gegend verwandelte sich in eine innerstädtische Naturlandschaft. Nach ersten Umwidmungen und der Errichtung eines Streifens von Bürobauten entlang der Lassallestraße wurde 1994 ein Leitbild für die städtebauliche Entwicklung des gesamten Bahnhofsareals beauftragt. 

Foto: Hanna Christoph

Die beginnende Transformation des Gebiets fiel damit in eine Zeit, in der die Bevölkerung Wiens – vor allem aufgrund der Umbrüche in Osteuropa und dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union – stark zu wachsen begann. Die Stadt reagierte mit einem Wohnbauprogramm, weitere sollten folgen. Neben Altbausanierungen spielten von nun an großflächige Stadterweiterungsprojekte im Norden und Süden der Stadt, aber auch innerstädtische Verdichtung – wie auf den ehemaligen Bahnarealen – eine wesentliche Rolle. Das Modell des klassischen, seit den 1920er Jahren etablierten Gemeindebaus wurde dabei sukzessive durch die Förderung von gemeinnützigen und privaten Wohnbauprojekten abgelöst, in die Wohnungen mit relativ günstigen Mieten integriert sind. Die aktuellen Stadt-entwicklungsgebiete sind als sozial durchmischte Viertel mit hoher Lebensqualität konzipiert. Es gibt Schulen, Büros, Parks, verkehrsberuhigte Straßen, öffentlichen Verkehr und ein differenziertes Wohnungsangebot. So wurde auch im Nordbahnviertel eine Mischung aus freifinanzierten und geförderten Miet- und Eigentumswohnungen errichtet – wiewohl wirklich billiger Wohnraum der Ausnahmefall bleibt.

Foto: Hanna Christoph

Das Wohnprojekt Kohlenrutsche entstand in der vorletzten Etappe der städtebaulichen Entwicklung – zeitgleich mit benachbarten Wohngebäuden, einem Bildungscampus und dem 200.000m² großen Bürokomplex Austria Campus, der durch seine Monofunktionalität mehr Puffer als Tor zur Stadt geworden ist. Bis zum Jahr 2026 wird der nun noch verbleibende Teil des Nordbahnareals fertiggestellt. Nach dem Konzept „Freie Mitte – Vielseitiger Rand“ des Wiener Planungsbüros StudioVlayStreeruwitz bleibt ein letzter Teil der ehemals weitläufigen und vielseitig genutzten Bahnhofs-Gstettn, umgeben von verdichteter Bebauung, erhalten.

Im Bewusstsein der Ambivalenzen des Ortes, aber auch seiner Qualitäten, möchte das gemeinschaftliche Wohnprojekt Kohlenrutsche mit verschiedenen Initiativen ein aktiver Teil des neuen Stadtviertels sein. Das Haus und die Gruppe sollen auch der Umgebung zugutekommen – als Ressource, die vieles möglich macht.

IG Lebenswerter Nordbahnhof
Remembering Nordbahnhof
Stadt Wien